Die große Zahl an nationalen Kollektivverträgen im tertiären Sektor führt dazu, dass für Arbeitnehmende, die dieselbe Tätigkeit ausführen, unterschiedliche Lohnelemente, Leistungen, Arbeitszeiten und Urlaubstage gelten. Dies mündet in einer Ungleichheit, die aufzuheben schwierig erscheint. Um das Problem genauer zu beleuchten, hat das AFI ein Webinar zum Vertragsdumping im Tertiärsektor veranstaltet. „Derzeit sind beim CNEL (Consiglio Nazionale dell’Economia e del Lavoro) mehr als 1.000 Kollektivverträge registriert. Die kritische Hinterfragung dieser Vertragsvielfalt hat daher mehr denn je Priorität“, so AFI-Direktor Stefan Perini.
Im vierten Webinar der Reihe „AFI im Dialog“ hat das Arbeitsförderungsinstitut das Vertragsdumping im Tertiärsektor in den Blick genommen. Das Treffen startete mit der Vorstellung einer Studie, die die Unterschiede in den vier bedeutendsten nationalen Kollektivverträgen des Sektors beleuchtet, und ging dann in eine Diskussion über, in der das Problem auf den Südtiroler Kontext heruntergebrochen wurde.
Vertragsdumping im tertiären Sektor
Der Hintergrund: Dass es mehrere Kollektivverträge für ein und dieselbe Branche gibt, führt zwangsläufig zu zahlreichen Ungleichbehandlungen zwischen Arbeitnehmer:innen, die zwar dieselbe Tätigkeit ausüben, aber je nach Art des angewandten Kollektivvertrags unterschiedlich behandelt werden. Nicht nur das „Grundgehalt“ variiert, sondern auch die Zuschläge für Überstunden, Feiertags- und Nachtarbeit, das vierzehnte Monatsgehalt sowie die Höhe des bezahlten Urlaubs und der Freistunden, die flexiblen Arbeitszeiten und der Kostenbeitrag zur Finanzierung der bilateralen Körperschaften.
Man muss somit genau verstehen, welche wirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Auswirkungen diese Vertragsvielfalt hat, wie sie sich auf den Wettbewerb auswirkt, welche Regelungen die Unternehmen begünstigen und auf wessen Kosten.
Die Studie und die Daten
Die Forschungsarbeit, an der Riccardo Maraga (wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Università degli Studi Roma Tre) mitgewirkt hat und die das Kernthema des Webinars darstellt, geht genau von dieser Annahme aus und analysiert die vier großen nationalen Kollektivverträge des tertiären Sektors (CONFCOMMERCIO, ANPIT, CIFA CONFSAL und FEDERTERZIARIO UGL) auf ihre Unterschiede.
Die Studie gliedert sich in drei Abschnitte: eine vergleichende Analyse der durchschnittlichen monatlichen Vergütung fünf spezifischer Berufsgruppen (Verkäufer:in, Abteilungsleiter:in, Fachkraft, Softwareentwickler:in und Verwaltungsangestellte:r), eine Untersuchung der einzelnen Vertragskonditionen und schließlich, eine Analyse der wirtschaftlich-normativen Bedingungen für Lehrlinge.
Die Unterschiede, die ans Licht getreten sind, sind zum Teil erheblich: Zwischen beispielsweise zwei Mitarbeitenden im Verkauf kann der Unterschied in der Monatsentlohnung bis zu 415 € brutto betragen (1.719 € brutto sind es laut Kollektivvertrag CONFCOMMERCIO und 1.304 € laut KV ANPIT), während ein Lehrling, wiederum abhängig vom angewandten Vertrag, zwischen 22.419 € und 13.875 € im Jahr verdienen kann – das ist ein Unterschied von fast 10.000 € pro Jahr!
Eine signifikante Ungleichbehandlung wird auch bei den Zuschüssen deutlich: Bei den nächtlichen Feiertagsüberstunden betragen die Abweichungen 15%, bei den Nachtüberstunden 20% und bei den nächtlichen Feiertagsstunden sogar 34%.
Auch beim Urlaubsanspruch gibt es nennenswerte Unterschiede: Der Kollektivvertrag von CONFCOMMERCIO sieht beispielsweise 72 Stunden an bezahltem Urlaub vor, was zusammen mit den vertraglich anerkannten Freistunden durch abgeschaffte Feiertage (entsprechend 32 Stunden) insgesamt 104 Jahresstunden ergibt; der Kollektivvertrag von ANPIT sieht hingegen nur einen bezahlten Urlaub (einschließlich der Freistunden) in Höhe von 32 Stunden pro Jahr vor. Versucht man, diese Ansprüche in Geld umzumünzen, so ergibt sich für eine:n Verkäufer:in ein jährlicher Gegenwert von 1.064 € an Urlaubsstunden für den Kollektivvertrag CONFCOMMERCIO und 241 € für ANPIT.
AFI-Vizepräsidentin Cristina Masera erläutert: „Die Tatsache, dass Wirtschaftsverbände mit nicht repräsentativen Gewerkschaften verhandeln – offensichtlich mit dem Ziel, Preisdumping über die Lohnkosten zu betreiben und damit unlauteren Wettbewerb zu fördern – vermittelt ein Bild von Arbeit und Arbeitswürde, das fernab der Verfassung ist und stattdessen der Ausbeutung nahekommt. Ein Paradebeispiel dafür bieten die vier Kollektivverträge, die in der Studie analysiert wurden: Nur der Vertrag von CONFCOMMERCIO wurde von den drei größten Gewerkschaftsbünde auf nationaler Ebene gemeinsam unterzeichnet.“
Wie ist die Situation in Südtirol?
In der abschließenden Diskussion wurde versucht, die Situation auf den Südtiroler Kontext herunterzubrechen. So sollte die öffentliche Hand im Bereich der Auftragsvergabe genau darauf achten, welche Verträge von den anbietenden Unternehmen angewandt werden, um nicht indirekt die Ausbeutung der Arbeitnehmenden bzw. die sogenannten „Piratenverträge“ zu fördern.
Kritsch zu bewerten sind auch die systematischen Verzögerungen bei den Vertragsverlängerungen im Bereich der Kollektivverhandlungen der zweiten Ebene: Ein einschneidendes Beispiel ist das territoriale Lohnelement, das im Tertiärsektor seit 2009 bei nur 8 € pro Monat stillsteht. Diese zeitlichen Aufschiebungen sind ein ernstzunehmendes Problem für Südtirol, wo Lebenshaltungskosten und Inflation höher sind als im restlichen Italien. Eine schnellere Anpassung der Gehälter wäre daher notwendig, um die Erosion der Kaufkraft der Arbeitnehmenden zu verhindern oder zumindest zu begrenzen.
Im Laufe der Diskussion wurde auch deutlich, dass das ständige Streben nach Kosteneffizienz (und nicht nach Wettbewerbsfähigkeit – nicht zu verwechseln) zu unlauteren Praktiken wie dem „Einstufungs-Dumping“ führt, bei dem eine Arbeitskraft offiziell eine niedrige Gehaltseinstufung erhält, in der Realität aber höherqualifizierte Tätigkeiten ausführen muss. Die Leidtragenden sind einmal mehr die Arbeitnehmenden, die weniger verdienen, als ihnen eigentlich zustehen würde.
Betrachtet man die einzelnen Berufsgruppen, so sind vor allem Wachdienste und Haushaltskräfte von den „Piratenverträgen“ betroffen. Auch die Situation der Lehrlinge ist nicht gerade rosig: Manchmal werden sie Opfer von Ausbeutung durch Anstellungen, die als Lehrstellen „getarnt“ sind, für die Unternehmen aber in erster Linie billige Arbeitskräfte sind, für die sie vielleicht sogar Förderungen erhalten.
Abschließend wurde nach möglichen Lösungen gesucht, um dem „Wildwuchs“ neuer Verträge durch nicht repräsentative Gewerkschaften einen Riegel vorzuschieben, was mitunter in erster Linie vom Gesetzgeber ausgehen muss. Der Weg dorthin scheint allerdings noch lang zu sein.
Statement AFI-Vizepräsidentin Cristina Masera
“Laut Statistik beschäftigt der tertiäre Sektor etwa 50 % der Arbeitskräfte in Italien; die vertraglichen Ungleichheiten, die gerade in diesem Bereich entstehen, haben daher erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es wäre dringend notwendig, einen Weg zu finden, um dieses Problem zu lösen.”
Nähere Informationen erteilen AFI-Direktor Stefan Perini (T. 0471 41 88 30, ) und AFI-Kommunikationsmitarbeiterin Denise Ganthaler (T. 0471 41 88 44, ).
Die Aufzeichnung des Webinars und die Präsentation sind auf der Homepage des Instituts www.afi-ipl.org und unter https://bit.ly/3GbE9Dy abrufbar.