08 Gennaio 2020

Klasse statt Masse – Ein Essay von Stefan Perini

veröffentlicht von "ff Das Südtiroler Wochenmagazin" in Ausgabe 01/2020

Klasse statt Masse

Südtirol muss aufpassen, auf dem Arbeitsmarkt nicht auf die falschen Pferde zu setzen. Die Politik verfehlt ihren Auftrag, wenn sie diese Steuerung nicht hinbekommt.

Ein Gespenst geht um in Südtirol – das Gespenst des Fachkräftemangels. Er führt zu Produktivitätseinbußen, weil Arbeitgeber nicht Topleute einstellen können, sondern gezwungen sind, auf Kandidaten zweiter oder dritter Wahl zurückzugreifen. Es stellt sich die Frage: Was geht uns aus – die Arbeit oder die Fachkräfte?

Auf der einen Seite stehen die „Pyramidenfetischisten“: Anhand von Bevölkerungspyramiden, Geburtenzahlen und Lebenserwartung rechnen sie vor, wie stark das Arbeitskräftepotenzial in den nächsten Jahren schwinden wird. Die Befürchtung: Die Arbeitskräfte werden uns ausgehen. Die Landesabteilung Arbeit rechnet uns vor, dass Südtirol im Jahr 2035 bis zu 60.000 Arbeitskräfte fehlen könnten.

Dem gegenüber stehen die „Technikkritiker“. Sie behaupten, der digitale Wandel würde rund die Hälfte der heute bekannten Berufsbilder wegrationalisieren und in die Massenarbeitslosigkeit führen. Ihr Credo: Die Arbeit wird uns ausgehen.

Die Entwicklung, die tatsächlich eintreten wird, bewegt sich irgendwo in der Mitte. Doch abseits von Zahlenspielereien geht es auch um einen Klassen- und Verteilungskampf.

Die Regeln der Marktwirtschaft lehren uns, dass sich knappe Güter verteuern. Akzeptiert man die Fachkräfteknappheit als solche, müssten sich Unternehmen Arbeitskräfte über höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sichern. Ein Szenario, das Arbeitnehmern und Gewerkschaften in die Hände spielen würde.

Will man aber nicht an der Schraube von Löhnen und Arbeitsbedingungen drehen, muss man zusehen, das Fachkräfteangebot auszuweiten, entweder indem man zusätzliches lokales Fachkräftepotenzial aktiviert (etwa nicht erwerbstätige Frauen oder Frührentner) oder, einfacher, indem man Fachkräfte von außerhalb des Landes anzieht. Diese Idee gefällt den Wirtschaftsverbänden und ist aktuell auch die Mehrheitsmeinung der Landespolitik. Geht man diesen zweiten Weg aber unüberlegt, birgt er große Risiken: geringere Wettbewerbsfähigkeit, schwierige gesellschaftliche Integration, sozialer Unfrieden.

Außerdem ist die Schlussfolgerung, dass Südtirol 2035 bis zu 60.000 Arbeitskräfte fehlen, überaus pauschal. So läuft man Gefahr, die arbeitsmarktpolitische Stoßrichtung falsch auszulegen. Es geht nämlich weniger um die Masse, die Südtirol braucht, sondern um die Klasse. 60.000 Arbeitskräfte garantieren noch keine Passgenauigkeit! Es braucht Leute, die die geforderten Ausbildungen und Kompetenzen mitbringen.

Wir sind nicht die Einzigen in Europa, die mit sinkendem Nachwuchs an Arbeitskräften konfrontiert sind, im Gegenteil. In einer ähnlichen Situa-tion befinden sich alle fortgeschrittenen Staaten. Folglich ist Südtirol keine Insel, sondern steht mitten im Wettbewerb um junge Talente und Fachkräfte, hauptsächlich mit den deutschsprachigen Ländern.

Also werden alle modernen Volkswirtschaften lernen müssen, mit weniger menschlicher Arbeitskraft auszukommen. Es gilt, eine vergleichbar hohe Wirtschaftsleistung wie heute zu erbringen, nur mit weniger Leuten. Dies wiederum gelingt nur über die Steigerung der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung pro Arbeitskraft, also über einen besseren Ressourceneinsatz. Im Prinzip geht es um die Kunst, die neuen Technologien (digitale Technik, künstliche Intelligenz, Roboter, Automation), Produktions- und Arbeitsmethoden und Wissen im optimalen Zusammenspiel einzusetzen.

Die Steigerung der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität steht deshalb auf der Prioritätsskala ganz oben, weil nur so die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Südtiroler Unternehmen gewährleistet ist. Eine Produktivitätsoffensive steht somit über den anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen.

Wichtiger als viele Arbeitskräfte werden also die „richtigen“ sein. Drehscheibe bildet dabei das Aus- und Weiterbildungssystem, das vor dem Hintergrund neuer, brüchigerer Erwerbsbiographien gedacht werden muss. Im Kern bedeutet das, dass wir uns unter Umständen darauf einrichten müssen, im Laufe eines Erwerbslebens auch unterschiedliche Berufe auszuüben.

Südtirols Weiterbildungssystem wird sich darauf einstellen müssen, dass ein guter Teil der Kursbesucher über 50 Jahre alt ist; und dass auch Leute mit 40, die sich beruflich umorientieren wollen oder müssen, eine Lehre machen. Neben einem öffentlichen Bildungssystem auf hohem Qualitätsniveau – und auf dieses können wir in Südtirol bereits heute stolz sein – kommt der Erwachsenenbildung große Bedeutung zu.

Bildungswege und Schulsystem müssen durchlässiger werden, um die Bildungs- und berufliche Mobilität möglich zu machen. Vor allem geht es aber um eine neue forma mentis – eine Veränderung in den Köpfen, dass Weiterbildung nicht eine Angelegenheit des ersten Lebensdrittels ist, sondern eine Lebensaufgabe.

Das Unternehmen, das keine Schwierigkeiten hat, genügend und gute Arbeitskräfte zu finden, kann stolz auf sich sein, ist es doch der beste Beleg dafür, dass Arbeitsklima, Lohn- und Vertragsbedingungen passen. All jene hingegen, die sich hinter dem Schlagwort Fachkräftemangel verstecken müssen, sind eingeladen, die Gründe zu hinterfragen.

Sind die Unternehmen nicht attraktiv genug? In diesem Fall muss man über bessere Arbeits- und Lohnbedingungen reden und in Südtirol eine Sozialpartnerschaft etablieren, die nicht nur in Sonntagsreden und am gemeinsamen Buffet funktioniert.

Vermarkten sie sich falsch? Das bedeutet, dass die Vorzüge des Unternehmens besser ins Licht gerückt werden müssen. Offensichtlich sind uns im Anwerben von Fachkräften unsere Nachbarländer eine Nasenlänge voraus. Professionalisierung im Rekrutierungsprozess wäre eine durchaus förderungswürdige Maßnahme für Südtiroler Unternehmen.

Wie jüngst deutlich wurde, verliert Südtirol im Saldo kluge Köpfe ans Ausland und holt niedriger qualifizierte ins Land. Gerade aus dem Blickwinkel der gesamtwirtschaftlichen Produktivität ist eine solche Entwicklung besorgniserregend, weil es bedeutet, dass sich Südtirol nicht weiter-, sondern rückwärts entwickelt.

Womit wir bei der Systemfrage angelangt wären, wohin sich Südtirols Wirtschaft entwickeln sollte und inwieweit diese Entwicklung mit wirtschaftspolitischen Anreizen begleitet werden kann. Sind wir sicher, dass die heutige Branchen- und Größenstruktur auch zukunftsfest ist? Will sich Südtirol wirklich 20.000 Einpersonenbetriebe leisten und sein Defizit an Betrieben mittlerer Größe (zwischen 10 und 30 Mitarbeitern) nicht kompensieren?

Eine größere Differenzierung tut auch in der Wirtschaftsförderung not – eine Wirtschaftsförderung, die dem Gemeinwohl unterstellt ist. Wer öffentliches Geld in die Hand nimmt, steht in der Pflicht, die Mittel so einzusetzen, dass gesellschaftlich wünschenswerte Entwicklungen belohnt werden: faire Bezahlung, soziale Verantwortung, ökologische Nachhaltigkeit.

Die heutige „Gießkanne mit Schwerpunktbonus“ muss einer seriösen Schwerpunktförderung weichen. Also weg von der Pauschalisierung, hin zu mehr Differenzierung, auch innerhalb der Branchen selbst. So gibt es nicht „die Bauern“, sondern mehr oder weniger förderungswürdige Bauern, gemessen an ihrem Beitrag zum Gemeinwohl. Mehr Differenzierung ist das Gegengewicht zum Populismus, der einfache Antworten auf komplexe Fragen verspricht.

Wer diese Steuerung nicht hinbekommt, verfehlt seinen politischen Auftrag. Wer sie aber schafft, schafft die Grundlage für die Entwicklung eines der begehrtesten Lebensräume Europas.

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