18. April 2024

Wie gehen Südtirols Beschäftigte in den einzelnen Branchen miteinander um?

Tobias Hölbling

EWCS 2021

Wie steht es um den sozialen Umgang am Arbeitsplatz in den Südtiroler Unternehmen und Organisationen? Helfen Chefs und Mitarbeitende in den Betrieben an Etsch und Eisack einander? In welchem Ausmaß kommt es bei der Arbeit zu Diskriminierungen, Benachteiligungen und Mobbing? Gemessen auf einer Skala von 0 bis 100 ist die Hilfsbereitschaft am Arbeitsplatz in Südtirol in allen Branchen gleich stark ausgeprägt und liegt im Branchenschnitt fast exakt auf dem EU-Niveau von 77 Punkten – ein solides Ergebnis! Die Handwerker helfen einander am öftesten (84 Punkte). Weil der Kundenkontakt im Gesundheits- und Sozialwesen deutlich schwieriger als in anderen Bereichen und der Arbeitsdruck gleichzeitig hoch ist, gibt ein Fünftel (20%) der Gesundheits- und Sozialbediensteten an, im Monat/Jahr vor der Befragung von Kollegen, Chefs und Kunden/Patienten schon mal aggressiv angegangen worden zu sein – ein deutlicher Unterschied zur nächstfolgenden Branche Hotellerie und Gastronomie mit 9%.

Wie sind die Arbeitsbedingungen im Bundesland Tirol, in Südtirol und im Trentino? Dieser Frage geht die Euregio-Studie zu den Arbeitsbedingungen nach. Ganz nach dem europäischen Vorbild der alle fünf Jahre europaweit stattfindenden Erhebung der Arbeitsbedingungen von Eurofound (EWCS) haben die Euregio und ihre Partnerinstitute Arbeiterkammer Tirol, AFI | Arbeitsförderungsinstitut Südtirol und Agenzia del lavoro im Trentino 2022 eine umfassende Befragung mit 4.500 Interviews (1.500 pro Landesteil) durchgeführt. Auf dieser Datengrundlage hat der Arbeitspsychologe Tobias Hölbling den Forschungsbericht „Branchenbericht: Sozialer Umgang am Arbeitsplatz in Südtirol“ erstellt, der heute (18. April 2024) auf einer Pressekonferenz im Palais Widmann vorgestellt worden ist.  Die Ergebnisse zeigen interessante Einblicke in das soziale Gefüge der Arbeitswelt und werfen Fragen zu Arbeitskultur und -umfeld auf.

Führungskräfte und Mitarbeitende helfen einander in allen Branchen

In allen Südtiroler Branchen lautet die Devise: Am Arbeitsplatz hilft man sich gegenseitig. Gemessen auf einer Skala von 0 (schlecht) bis 100 (ausgezeichnet) sorgt dies bei einem Punktwert von 76 (der EU-Durchschnitt ist 77) für ein solides Ergebnis und gilt für alle Branchen gleichermaßen. Weitet man den Blick auf die branchenübergreifenden Berufshauptgruppen aus, zeigt sich, dass Handwerker einander signifikant häufiger als andere Berufsgruppen gegenseitig helfen; mit 84 von 100 Punkten führt diese Berufsgruppe die Wertung an. Dienstleistungsberufe und Verkäufer sind mit 79 Punkten an zweiter Stelle, darauf folgen die akademischen Berufe mit 77 Punkten an dritter Stelle. Im Handwerk ist klar: Ob in der Werkstatt oder auf dem Bau, viele Arbeitsaufgaben lassen sich nur in Zusammenarbeit bewältigen; Teamfähigkeit ist eine Grundvoraussetzung für viele handwerkliche Berufe und auch ein Einstellungskriterium.

Auch im Handel und in anderen Dienstleistungsberufen müssen Beschäftigte häufig zusammenarbeiten und ziehen einen Nutzen daraus, einander zu helfen. Leitungsaufgaben und spezialisierte Tätigkeiten, wie sie akademische Berufen zu eigen sind, erfordern ebenfalls ein hohes Maß an Zusammenarbeit.

Schädliche Verhaltensweisen: Nicht nur aufgrund von Chefs und Kollegen, sondern auch von Kunden und Patienten

„Unter dem Schlagwort Diskriminierung werden sozial schädliche Verhaltensweisen wie Beleidigungen, Bedrohungen, unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche bis hin zu Mobbing und Gewalt verstanden. Ausgehen können diese von Vorgesetzten oder Arbeitskollegen, aber auch von den „Endnutzern“, spricht Kunden, Schülern, Patienten“, erläutert Hölbling. Es ist folglich nicht verwunderlich, dass Beschäftigte in Branchen, in denen der Kundenkontakt unabdingbar ist und es um ernste Angelegenheiten geht, mit aggressiven Verhaltensweisen öfter konfrontiert sind als andere, in denen Kundenkontakt nicht in diesem Ausmaß und nicht unter diesen Vorzeichen stattfindet. Weitere Risikofaktoren für aggressives Verhalten am Arbeitsplatz sind eine knappe Personaldecke, große Arbeitsmengen und viel direkte Verantwortung Einzelner bei weitgehend unstrukturierten und oft auch unplanbaren Arbeitsaufgaben. Der unter diesen Arbeitsbedingungen entstehende Druck wird nicht selten an Arbeitskollegen weitergegeben und kann im Extremfall Mobbing begünstigen. Besonders alarmierend sind die Werte im Gesundheits- und Sozialwesen, wo all diese Schwierigkeiten zusammenlaufen. Hier hat einer von fünf Beschäftigten im Monat bzw. Jahr vor der Befragung aggressive Verhaltensweisen im beruflichen Umfeld erlebt. „Diese Ergebnisse gelten genauso für das Gesundheits- und Sozialwesen im Bundesland Tirol. Die Branche ist nördlich wie südlich des Brenners kein Zuckerschlecken – im Trentino scheint es aber besser zu laufen“, gibt Hölbling Auskunft.  Die anderen Branchen liegen mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau (um die 8%), nur die Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe berichten erfreulicherweise noch deutlich weniger häufig von aggressiven Verhaltensweisen am Arbeitsplatz (4%).

Worin liegt die Ursache für die regionalen Unterschiede innerhalb der Europaregion?

Grundsätzlich ordnet sich Südtirol im Europaregionsvergleich stets zwischen dem Bundesland Tirol und dem Trentino ein. Nord- und Osttirol meldet meist mehr Diskriminierungen, das Trentino hingegen immer deutlich weniger. Zu diesen Ergebnissen gibt es mehrere Hypothesen: Die erste ist, dass es tatsächliche reale Unterschiede bei den sozialen Verhaltensweisen gibt. Demzufolge würden in der Nord- und Osttiroler Arbeitswelt allgemein ruppigere Sitten und ein rauerer Umgangston herrschen als in Südtirol oder dem Trentino, was sich entsprechend auf die Bewertung niederschlagen würde. Die zweite Hypothese ist, dass die Beschäftigten im Bundesland Tirol sensibler für das Thema sind und daher Beleidigungen und Belästigungen verschiedener Art als wesentlich nennenswertes Problem wahrnehmen und solche Episoden häufiger melden.

Ausblick und Handlungsbedarf

Kommen in der Belegschaft diskriminierende Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum vor, wirkt sich das negativ auf die Leistung des Unternehmens oder der Organisation aus. Betroffene müssen beispielsweise psychische Ressourcen wie Aufmerksamkeit oder Konzentration, die eigentlich zur Aufgabenbewältigung im Sinne des Unternehmens eingesetzt werden sollten, für Emotionsregulation aufwenden. Die Folge: Die Leistungsfähigkeit und -willigkeit wird geringer, Krankenstände werden häufiger und der Arbeitsplatzwechsel wahrscheinlicher – dies alles ist mit Kosten für den Betrieb verbunden. Besonders in Anbetracht des zunehmenden Wettbewerbs um Fachkräfte und der umliegenden wirtschaftsstarken und gleichsprachigen Nachbarländer ist es wichtig, dass Südtiroler Unternehmen und Organisationen die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten verbessern. Ein genaueres Hinschauen und Lernen von Branchen, die es bereits besser machen, können hierbei von großem Nutzen sein.

Prävention als Schlüssel

Es ist entscheidend, dass Unternehmen und Organisationen angemessen auf solche Herausforderungen reagieren. Sowohl Verhaltens- als auch Verhältnisprävention spielen hierbei eine wichtige Rolle. Durch ein durchdachtes Beschwerdemanagement und Mitarbeiterschulungen können negative Erfahrungen am Arbeitsplatz besser bewältigt werden. Gleichzeitig sind eine angemessene Personalstärke und klare Verantwortungsstrukturen notwendig, um Druck und Frustration zu vermeiden, die sich sonst in Form von Mobbing und Schikane entladen können.

Stellungnahme von AFI-Präsident Andreas Dorigoni

Es ist ermutigend zu sehen, dass das Bewusstsein für die Bedeutung sozialer Unterstützung am Arbeitsplatz zunimmt. Durch eine konsequente Umsetzung von präventiven Maßnahmen können Arbeitsumgebungen geschaffen werden, die nicht nur sicher und gesund sind, sondern auch Raum für persönliches Wachstum und Wohlbefinden bieten.

 

Pressemitteilung

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Der AFI-Zoom Nr. 77 „EWCS Europaregion. Branchenbericht: Sozialer Umgang am Arbeitsplatz in Südtirol“ steht im Internet unter www.afi-ipl.org zum Download bereit.

Nähere Informationen erteilen Arbeitspsychologe und AFI-Forscher Tobias Hölbling (T. +39 0471 41 88 31, tobias.hoelbling@afi-ipl.org).

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